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Videotelefonie – Trend oder nur Spielerei

Der Stern sieht in seiner Onlineausgabe das Telefonieren wie wir es kannten am aussterben. Videotelefonie sei ganz klar der neue Trend und würde sich jetzt dank iPads, iPhones und Notebooks massenhaft durchsetzen. Voller Technik-Euphorie beschreibt Ralf Sander die enormen Vorteile der neuen Technik. Der technik- und zeitungserfahrene Leser beginnt jedoch schnell über die Zeilen zu grübeln und erkennt bei näherem Hinschauen eine Mischung aus Apple-Werbung und oberflächlicher Technikanalyse.

Kein Internetartikel ohne Apple-Werbung
Skype als Urvater der Internet- und später dann auch der Videotelefonie darf natürlich in keinem Artikel fehlen. 40 Prozent der geführt Gespräche, so erfährt man, entfallen bei Skype bereits auf Videotelefonie. Nach ein paar weiteren Nuzerzahlen zu Skype schwenkt der Artikel dann im nächsten Absatz sofort wieder über auf Apple und das neue iPhone bzw. das neue iPad.

Wie praktisch es ist, mit einem kleinen, leichten Bildschirm zu videochatten, ist vielen erst durch Apple bewusst geworden. Dem iPhone4 spendierte das Apfel-Imperium im vergangenen Jahr nicht nur die zweite Kamera, sondern auch die Videochatsoftware Facetime. Und kaum eine Neuerung des kürzlich vorgestellten iPad2 wurde so bejubelt: Endlich Facetime auch auf dem Tablet! Damit ist Videotelefonie zum De-facto-Standard für alle kommenden Tablet-PCs und hochklassigen Smartphones geworden.

Der Teufel steckt in Detail
„Grosse Worte gelassen ausgesprochen“. Apple bringt das iPad2 raus und zwei Wochen nach Verkaufsstart ist die Videotelefonie bereits Standard? Ob da beim Autor nicht der Wunsch Vater des Gedanken war? Fakt ist, dass Facetime bis jetzt nur über W-LAN funktioniert. Wer per UMTS unterwegs ist, schaut in die Röhre oder muss über Skype oder andere Protokolle „videotelefonieren“. Ausserdem ist Facetime nur für Apple-Kunden zugänglich. Sprich: Facetime geht nur auf dem iPhone4 und dem iPad2 mit einer W-LAN Verbindung. Diese Konstellation dürfte zahlenmässig so gering sein, dass sie im Moment einfach nicht Standard sein kann. Anders sieht es da mit Skype aus. Die geräteübergreifende Software kann sowohl vom Computer, wie wie auch von vielen mobilen Endgeräten genutzt werden. Dies erweitert den möglichen Kundenstamm enorm. Wäre da nicht die oft fehlende UMTS Abdeckung. In vielen Gegenden Deutschlands lässt der UMTS noch zu wünschen übrig. Es bleibt dem Nutzer also oft nichts anderes übrig, als wieder auf das heimisch W-LAN Netzwerk zuzugreifen. Mit viel Glück hat man vielleicht an seinem Arbeitsplatz oder in der Universität einen freien Internetzugang. Hinzu kommt, dass nicht jeder Tablet-PC einen UMTS-Zugang besitzt.
Somit lassen diese vielen „aber“, berechtigte Zweifel aufkommen an der Aussage „Videotelefonie zum De-facto-Standard für alle kommenden Tablet-PCs und hochklassigen Smartphones geworden“.

Auch Aussagen wie:

Die Jungen kennen es nicht anders
Mehr als sieben Millionen Deutsche nutzen bereits Videotelefonie, hat eine Umfrage des IT-Verbandes Bitkom ergeben. Fast jeder vierte Schüler und Student (23 Prozent) sieht seinen Gesprächspartner beim Telefonieren – und wird es später im Job und Privatleben nicht anders kennen. Bitkom-Präsident August-Wilhelm Schäfer ist sicher: “Videotelefonie auf mobilen Endgeräten wird ein Megatrend.”

scheint zum jetzigen Zeitpunkt etwas verfrüht. Natürlich wird mit der Einführung der LTE-Technik die gesamte Mobilfunk-Branche einen Techniksprung erleben wie kaum zuvor, jedoch wird es noch einige Jahre dauern, bis sowohl die Netzabdeckung wie auch die Gerätedichte so hoch ist, dass die Auswirkungen im Alltag zu spüren sind.

Fragwürdige Anwendungsbeispiele
Natürlich gibt es einige Beispiele, bei denen die Videotelefonie enorme Vorteile hat und auf die Ralf Sander im Sternartikel auch hinweist. So kann es gerade für Gehörlose das Telefonieren überhaupt erst ermöglichen oder in Zeiten der Globalisierung können Lehrer von überall auf der Welt per Videochat Unterricht erteilen.
Aber mal Hand aufs Herz. Wer von uns hat einen Spanisch Lehrer, der in Madrid oder in Südamerika sitzt? Oder wieviele Großeltern benutzen Videotelefonie, um ihre Enkelkinder aufwachsen zu sehen? Viele der erwähnte Beispiele hören sich in der Theorie gut, verlieren jedoch in der Praxis schnell an Bedeutung. Wie schnell wird es wohl gehen, bis die ersten Kulturkritiker in der Videotelefonie den Untergang der Gesellschaft erkennen? Per Videochat könnte man natürlich auch ganz gut Stammtische abhalten, ohne das Haus zu verlassen. Der Alkoholkonsum würde steigen, dafür würden aber die sozialen Kontakte sinken. Strengt man sich an, findet man neben dem Sprachunterricht und den Großeltern sicherlich auch Punkte, die die Technik in Verruf bringen. Wie gross war der Aufschrei, als die Videochatsoftware „chatroulette„ auf den Markt kam. Im Zufallsprinzip wurden den Chattern fremde Chatpartner mit Video zugewiesen. Studien zu folge dauert es durchschnittlich drei Sekunden, bis ein Geschlechtsteil zu sehen war. Auch das ist von der Technik her Videotelefonie.

Kritik dürfte sich lange auf sich warten lassen
Unsere Großeltern wussten schon: „Des einen Freud ist des anderen Leid.“ Das Internet, und Videotelefonie ist nicht anderes als visuelles Internet, hat seine Vor- und seine Nachteile. Was im Sternartikel als der neue Standard und das neue Mittel der Kommunikation angepriesen wird, kann für andere Internetnutzer ein paar Jahre später der Grund für den Untergang der zivilisierten Welt sein. Wie wird über die neue goldene Technik gedacht, wenn der erste Perversling Minderjährige zum Live-Strip überredet? Ist dann die Videotelefonie die Wurzel allen Übels, mit der Straftäter in die Zimmer unserer Kinder eindringen können? Sicherlich mögen das Extrembeispiele sein, wer aber eine Technik über alles lobt, sollte auch die Schattenseiten beleuchten.

Fazit
Das Internet und auch die Videotelefonie sind Werkzeuge, die weder gut noch böse sind und auch nicht einer „(Obst)Firma“ aus den USA gehören oder zu verdanken sind. Jede neue Technik, wie besseres Internet und bessere Kameratechnik, bewirkt auch einen Techniksprung in deren Anwendung. Und solange wir keine Menschen im Supermarkt oder an der Bushaltestelle beim Videotelefonieren sehen ist die Technik kein Standard.

In einem aktuellen FAZ-Artikel wird ebenfalls Facetime mit dem Konkurrenten Skype verglichen. Wie es aussieht, können jetzt auch MAC-Nutzer Facetime nutzen. Dies erweitert zwar den Nutzerkreis, bleibt jedoch auch weiterhin auf Apple-Kunden beschränkt.
Sollte Apple den Schritt wagen, und dies wird auch im Artikel erwähnt, Facetime für Windows oder vielleicht sogar für andere Smartphones freizuschalten, dürfte der Erfolg vermutlich enorm werden.

Meinungen und Kritik dürfen gerne in den Kommentaren hinterlassen werden.

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